Als langjährige Beobachterin der Gospelwelt und als Musikerin erlebe ich immer wieder, wie lebendig und anziehend die Kombination von Gospel mit anderen Genres ist. Cross-over-Projekte können Brücken bauen – sie öffnen Horizonte, schaffen neue Farben und bringen unterschiedliche Communities zusammen. Gleichzeitig sehe ich aber auch Projekte, die sich unachtsam, oberflächlich oder ausbeuterisch gegenüber kulturellen Wurzeln verhalten. In diesem Text möchte ich dir helfen, kulturelle Aneignung in Cross-over-Projekten mit Gospelmotiven zu erkennen: worauf du achten kannst, welche Fragen du stellen solltest und wie faire Zusammenarbeit aussehen kann.
Was meine ich mit kultureller Aneignung?
Für mich bedeutet kulturelle Aneignung, dass Elemente einer Kultur — sei es Musik, Kleidungsstil, religiöse Symbole oder Performance-Praxis — von Außenstehenden übernommen werden, ohne Respekt, Kontext oder Anerkennung der Herkunft. Im schlimmsten Fall profitieren die Neuinterpretierenden kommerziell oder reputationsmäßig, während die originären Träger*innen der Kultur marginalisiert oder unsichtbar bleiben.
Bei Gospel ist die Sache besonders sensibel, weil Gospelmusik tief in afroamerikanischen Kirchen- und Widerstandstraditionen verwurzelt ist. Wenn Gospel-Elemente in Pop, EDM, Indie oder anderen Genres auftauchen, stellt sich die Frage: Wird die Herkunft gewürdigt und sind die beteiligten Musiker*innen respektvoll eingebunden?
Erkennbare Warnsignale in Cross-over-Projekten
- Fehlende Kontextualisierung: Das Album oder die Single präsentiert Gospel-Elemente (Call-and-Response, jubelnde Chöre, religiöse Texte) ohne Hinweis auf Herkunft, Geschichte oder Bedeutung.
- Unsichtbare Mitwirkende: Gospelchöre oder einzelne Sänger*innen werden im Studio eingesetzt, aber nicht namentlich genannt, bezahlt oder in Promo sichtbar gemacht.
- Stereotype Darstellung: Die Musik bedient sich oberflächlicher Klischees — "soulful wailing", übertriebenes Gestikulieren oder exotisierende Bildsprache — ohne echte Auseinandersetzung.
- Kommerzielle Instrumentalisierung: Spirituelle oder religiöse Elemente werden rein als Marketing-Gimmick benutzt (z. B. in Werbespots, die nichts mit dem Glaubenskontext zu tun haben).
- Unausgewählte Produktionskontrolle: Wenn Produzent*innen oder Labels aus anderen Kulturen den Sound komplett umbauen, ohne Input der Traditionsträger*innen anzunehmen.
- Fehlende Anerkennung historischer Ungerechtigkeiten: Projekte, die behaupten, "inspirieren von" zu sein, aber die ungleiche Geschichte von Gospel (Sklaverei, Bürgerrechte, kirchliche Praxis) ignorieren.
Konkrete Fragen, die ich mir stelle — und die auch du stellen kannst
Wenn ich ein neues Cross-over-Projekt höre, stelle ich mir bewusst Fragen. Diese helfen, zwischen respektvoller Fusion und Aneignung zu unterscheiden:
- Wer hat die Musik geschrieben und produziert? Sind Künstler*innen und Produzent*innen aus der Gospeltradition involviert?
- Wer steht sichtbar auf der Credits-Liste? Werden Chorleiter*innen, Solist*innen und Backgroundsänger*innen genannt und angemessen vergütet?
- Wie spricht das Projekt über seine Einflüsse? Gibt es liner notes, Interviews oder Begleittexte, die die Herkunft erklären und würdigen?
- Wird spiritueller Inhalt respektiert? Werden religiöse Texte und Rituale unverstanden verwendet oder in einen rein ästhetischen Kontext gezogen?
- Gibt es Austausch auf Augenhöhe? Sind lokale Gemeinden, Kirchen oder kulturelle Vermittler*innen beteiligt und entscheiden mit?
Beispiele, die in meiner Arbeit oft auftauchen
In meiner Journalistinnenpraxis habe ich Projekte gesehen, die inspirierend sind, und solche, die problematisch waren. Ein positives Beispiel ist—ohne Namen herauszustellen—eine Kollaboration, bei der eine Popband mit einem lokalen Gospelchor arbeitete: Die Chorleiterin wurde im Booklet ausführlich porträtiert, die Proben waren offen für Presse und das Konzert brachte Spenden für die Gemeinde. Das fühlte sich nach echter Co-Kreation an.
Im Gegensatz dazu gibt es Fälle, in denen ein Chart-Produzent Gospel-Vokalspuren "lizenzfrei" einkaufte oder mit anonymen Session-Sängern arbeitete, um dem Track "Authentizität" zu verleihen, ohne irgendwen namentlich zu nennen oder die Community zu unterstützen. Das hinterlässt bei mir ein ungutes Gefühl.
Wie gute, respektvolle Cross-over-Arbeit aussehen kann
Aus meinen Interviews mit Musiker*innen habe ich einige gute Praktiken gesammelt, die ein hilfreiches Leitbild bieten:
- Transparente Credits und faire Bezahlung: Alle Mitwirkenden werden genannt und erhalten angemessene Gagen bzw. Tantiemen.
- Partnerschaft statt Ausbeutung: Kooperationen entstehen durch echte Anfrage und Einbezug – Chöre, Kirchen und Community-Leader sind Teil des kreativen Prozesses.
- Bildung und Kontext: Begleittexte, Interviews oder Konzertansagen erklären die Herkunft der Elemente und würdigen historische Zusammenhänge.
- Kulturelle Vermittlung durch Vertreter*innen: Traditionelle Musiker*innen dürfen die Rolle von Berater*innen einnehmen und darüber entscheiden, wie ihre Praxis transformiert wird.
- Rückfluss von Profit: Wenn kommerzieller Erfolg entsteht, fließt ein Teil zurück in die Communities oder wird gemeinnützig verwendet.
Praktische Tipps für Hörer*innen und Veranstalter*innen
Wenn du selbst Musik konsumierst, kuratierst oder ein Konzert planst, kannst du aktiv Verantwortung übernehmen:
- Informiere dich: Lies die Liner Notes, besuche Interviews, frag nach Fellows und Chören.
- Stelle Fragen an Künstler*innen: Wie entstand das Projekt? Wer war beteiligt? Wie wurden Entscheidungen getroffen?
- Unterstütze direkt: Kaufe Alben von den beteiligten Gospelkünstler*innen, spende an Gemeindeprojekte, teile ihre Arbeit sichtbar.
- Fordere Sichtbarkeit: Bei Festivals und Programmen auf authentische Repräsentation drängen — nicht nur visuell, sondern auch in Wort und Buchhaltung.
- Sei kritisch, aber konstruktiv: Wenn du problematische Aneignung bemerkst, sprich es an, aber biete auch Wege zur Wiedergutmachung an (z. B. Kreditnennung, Spende).
Meine Rolle als Journalistin und Musizierende
In meiner Arbeit bei Mundogospel versuche ich, diesen Fragen Raum zu geben: Ich nenne Quellen, frage bei Künstler*innen nach, dokumentiere Proben und lade Stimmen der traditionellen Communities ein, ihre Perspektive zu teilen. Als Pianistin und Chormitglied weiß ich, wie verletzend es ist, wenn eine Tradition reduziert oder romantisiert wird. Deshalb achte ich darauf, nicht nur den glitzernden Erfolg zu feiern, sondern auch die Geschichten dahinter sichtbar zu machen.
Wenn du ein konkretes Projekt im Blick hast, das du unsicher findest, schreib mir gern. Ich helfe dir beim Einschätzen, recherchiere Credits oder führe bei Bedarf Interviews — immer mit dem Ziel, faire Vernetzung und Respekt für die kulturellen Wurzeln der Gospelmusik zu fördern.